Wenn Ali boxte

Wenn Ali boxte, war mein Vater hellwach. Mitten in der Nacht oder am frühen Morgen. Bei der ersten Mondlandung ist meine Mutter noch mit wach geblieben, aber wenn Ali boxte, schlief sie tief und fest. Mein Vater kochte sich selber Kaffee, gegen die Müdigkeit. Fünfzehn Runden gegen Foreman, fünfzehn gegen Frazier. Da lohnte sich das frühe Aufstehen, da wurde noch was geboten. A Rumble in the Jungle, Kinshasa war plötzlich nebenan und ein paar Stunden später hatten auf der Arbeit alle dicke Ringe unter den Augen, als hätten sie selber mitgeboxt. Beim Frühstück ließ ich mir von meinem Vater sagen, wer gewonnen hatte und wie der Kampf gewesen war, damit ich im Kindergarten oder in der Grundschule damit angeben konnte, damit ich so tun konnte, als hätte ich Ali selbst boxen sehen.

Mein Vater erklärte mir, Ali habe mal Cassius Clay geheißen, nenne sich jetzt aber Muhammad Ali, wegen der Religion. Das habe ich nicht verstanden, aber das war auch gar nicht nötig. Wenn ich meinen Kumpels das mit der Religion sagte, fragte schon damals keiner nach, weil er nicht zugeben wollte, dass er keine Ahnung hatte. Mein Freund Andy hat zwar als Erster geraucht, aber ich hatte als Erster Ali boxen sehen. Als ich es oft genug erzählt hatte, glaubte ich es selbst. Wer was auf sich hielt, sagte einfach nur »Ali«, ohne das Muhammad davor.

Meine Mutter hat immer nur den Kopf geschüttelt, wenn mein Vater nachts aufstand, um Ali boxen zu sehen. »Was soll so toll daran sein, wenn zwei Männer sich den Schädel einschlagen?«, fragte sie meinen Vater, und mein Vater sagte: »Du als Frau verstehst das nicht!« So was durfte man damals noch sagen, ohne aus der Stadt gejagt zu werden.

Der Einzige, mit dem mein Vater darüber reden konnte - außer mit mir natürlich - war mein Oppa. Das war auch so ziemlich alles, worüber sie miteinander reden konnten. Beim Fußball hatten sie verschiedene Lieblingsvereine. Außerdem tranken sie unterschiedliche Biermarken. Nur bei Ali waren sie sich einig. Mein Oppa hatte zwar immer was gegen Ausländer, aber bei Schwarzen machte er Ausnahmen. Die hießen bei ihm nur »Schwatte«. Meine Omma hat mir mal erzählt, ein »Schwatter« habe meinem Oppa im Krieg mal das Leben gerettet, in Afrika, wo er eine Zeit lang unter Rommel lag. Seitdem waren »Schwatte« in Ordnung. Wenn in einem Krimi beispielsweise die Handlung in ein Stadium der Krise überging, und irgendwann war einmal ein Farbiger vorgekommen, sagte mein Oppa immer: »Warte mal ab! Der Schwatte macht das schon!« Und die Krise kam ja in den Film immer nur wegen der Frauen. Wenn am Anfang eines Krimis oder eines Westerns eine Frau durchs Bild ging, sagte mein Oppa schon »Ach du Scheiße. Hoffentlich kommt noch 'n Schwatter!« Der Schwatte musste ausbügeln, was die Frauen verknitterten. Und dummerweise behielt mein Oppa meistens recht. Kaum war zu Anfang eines Krimis eine Frau aufgetaucht, wurde auch schon jemand umgebracht.

Deshalb war mein Oppa auch immer für Ali. Joe Frazier und George Foreman waren zwar auch Schwatte, aber Ali war anders. Mein Vater sagte, Ali sei so elegant. Ein Großmaul, aber das gehöre dazu, und in jedem Fall boxe er sehr elegant. Da nickte mein Oppa nur, und beide freuten sich, dass sie sich mal einig waren.

Nachdem Ali aufgehört hatte und man nur noch von ihm hörte, weil er Parkinson hatte, interessierten sich weder mein Vater noch mein Oppa weiter fürs Boxen. Mein Uroppa, der Vater meines Oppas, hatte auch Parkinson gehabt, und wahrscheinlich war das einfach zu nah dran. Das ging doch nicht, dass einer wie Ali die gleiche blöde Krankheit hatte, dass er genauso zitterte und sabberte wie mein Uroppa.

Ich habe meinen Oppa mal gefragt, wieso Ali so toll sei, und mein Oppa sagte: »Weil er der Größte ist!«, und das hörte sich an wie etwas, bei dem man nicht weiter nachfragt.

Ein einziges Mal nur bin ich morgens um vier aufgestanden, um mir einen Boxkampf anzusehen und herauszukriegen, wie das für meinen Vater gewesen sein müss. Es war der Kampf von Mike Tyson gegen einen der Spinks-Brüder, glaube ich jedenfalls. Mit Augenlidern dick wie Mandarinenschalen hockte ich vor dem Fernseher und hatte Mühe, wach zu bleiben. Der Kampf begann mit über anderthalb Stunden Verspätung. Und dann lief Spinks nach neunzig Sekunden in Tysons Faust und der Zauber war vorbei.

Wenn Ali boxte, war mein Vater hellwach. Wenn es heute auf die Glocke gibt, schlafe ich einfach weiter.

 

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